Stilphasen der Gotik in Frankreich und Deutschland

Der Vergleich der Stilgeschichte der Gotik in Frankreich und Deutschland ist durch sprachliche Ungenauigkeit bei der Benennung der Stilphasen belastet.

Phasen der Gotik in Frankreich

Gothique primitif

Chor von Notre-Dame de Paris: ohne Triforium
Chor der Kathedrale von Noyon mit rundem Chor­schluss, rundem Emporen­geschoss, runden Kapellen

Die erste Phase der Gotik in Frankreich wird als Gothique primitif bezeichnet. Georg Dehio übersetzte das mit „erste Gotik“, und auch in französischen Fachartikeln findet sich zuweilen die Bezeichnung «premier Gothique». Da das Adjektiv primitif neben „primitiv“ im deutschen Sinne mindestens gleichgewichtig die Bedeutung „ursprünglich“ hat, wäre auch eine Übersetzung mit „Anfangsgotik“ treffend. Typisch für den Gothique primitif sind:

  • Emporenbasiliken,
  • Binnenchöre, Chorumgänge und Kapellen schließen rund.
  • Runde Arkadensäulen mit korinthischen Kapitellen. Die Dienste beginnen erst auf deren Deckplatten. Anmerkung: In der vorangegangenen romanischen Architektur gibt es in den Arkaden beiderseits des Mittelschiffs und um den Binnenchor sowohl Pfeiler mit Vorlagen (Diensten), als auch einfach runde Säulen.
  • spitzbogige Kreuzrippengewölbe, über den Seitenschiffen vierfeldrig, über den Mittelschiffen oft als sechsfeldrige Doppeljoche, gleichsam als Reminiszenz des gebundenen Systems.

Überkommenes:

  • Hinsichtlich der Bögen von Fenstern und Portalen weisen mehrere Bauten des Gothique primitif noch einen Übergangsstil auf, das heißt, längst nicht alle Wandöffnungen sind spitzbogig.

Entwicklung:

  • Bis einschließlich zum Chor von Notre-Dame de Paris sind die Wandaufrisse der Mittelschiffe von Basiliken dreizonig: Arkade, Empore, Obergaden.
  • Ab etwa 1160 werden zwischen Galerie und Obergaden Triforien angelegt, s. u.

Gothique classique

Kathedrale von Reims: Triforium ohne Fenster
Umgangschor der Kathedrale von Chartres mit maßwerklos-frühgotischen Fenstern

Die zweite Phase der Gotik in Frankreich wird Gothique classique genannt, klassische Gotik. Der französische Kunsthistoriker und ranghohe Denkmalpfleger Alain Erlande-Brandenburg charakterisierte sie als «gothique maîtrisée» – „gemeisterte Gotik“.(*) Man könnte das auch mit – „gereifte Gotik“ oder – „reife Gotik“ übersetzen. Als ihr Ausgangsbau gilt die Kathedrale von Chartres, abgesehen von der (älteren) Westfassade ab 1195 errichtet. Ausdruck dieser Stilphase sind:

  • Über den Seitenschiffen von Basiliken werden keine Emporen mehr angelegt. Zur Regel werden Basiliken mit Triforium in Form zum Mittelschiff geöffneter Zwerggalerien statt der Emporen,
  • Binnenchor, Chorumgang und Kapellen schließen polygonal.
  • Die Vorlagen (Dienste) für Gurt- und Arkadenbögen beginnen an den Basen der Arkadenpfeiler, so dass die Mittelschiffe von durchgehenden Senkrechten geprägt sind.
  • Die Kreuzrippengewölbe sind auch über Mittelschiffen und Binnenchören vierfeldrig.

Gothique rayonnant

Als Initialbau der dritten Phase der Gotik in Frankreich, des Gothique rayonnant, der strahlenden Gotik, gilt gemeinhin die Kathedrale von Amiens, errichtet ab 1220.

  • Der Gothique rayonnant zeichnet sich durch Vergrößerung der Fensterflächen aus.
  • Die Triforien bekommen Außenfenster oder werden den Obergaden zugeschlagen.
  • Internationale Bedeutung: Nach dem Muster der Kathedrale von Amiens wurde ab 1248 der Kölner Dom errichtet.

Gothique flamboyant

Sainte-Chapelle in Riom

Die vierte Phase der Gotik in Frankreich wird als Gothique flamboyant – „flammende Gotik“ bezeichnet. Als Initialbau wird die 1388 als Schlosskapelle errichtete Sainte-Chapelle in Riom genannt.

  • Kennzeichen ist die kreative Ausweitung des Formenspektrums.
  • Weniger im allgemeinen Bewusstsein, aber auch typisch, sind um eigentlich rechteckige Fenster und Tore geschlungene Kielbögen

Phasen der Gotik in Deutschland und übrigem Mitteleuropa

In Deutschland wird die Gotik bekanntlich in Frühgotik, Hochgotik und Spätgotik unterteilt.

Frühgotik

Frühgotik ist entweder Gotik ohne Maßwerk[1] oder Gotik vor dem Kölner Dom.

  • Die Zahl der frühgotischen Bauten in Deutschland hängt davon ab, ob man Georg Dehios Vorliebe für die „deutsche Spätromanik“ folgt, oder alle ab 1140 bzw. in Deutschland ab 1180 überwiegend mit Spitzbögen ausgestatteten Bauten als gotisch versteht.
  • Von den als romano-gotisch bezeichneten Bauten in den Niederlanden und dem westlichen Niedersachsen sind bei näherer Betrachtung einige tatsächlich in dem Sinne romano-gotisch, dass an ihnen in derselben Bauphase romanische und gotische Formen verwendet wurden, andere weisen eine romanische und eine gotische Bauphase auf.

Charakterisierung einiger Bauten:

  • Der Limburger Dom, ab kurz nach 1180, ist eine Emporenbasilika mit rundem Chorschluss, entsprechend dem Gothique primitif, aber die Vorlagen/Dienste der Pfeiler reichen herab bis zu den Sockeln.
  • Im Magdeburger Dom ist der 1207 oder 1209 begonnene Chor eine Emporenbasilika, aber abweichend von dem an Fundamenten abzulesenden ersten Entwurf mit runden Wandverläufen wurde (ab 1215) das aufragende Mauerwerk mit polygonalen Grundrissen hochgezogen,[2] entsprechend dem Gothique classique. Auch reichen alle Gewölbedienste bis zu den Pfeilersockeln.
  • Am Dekagon von St. Gereon (Köln), 1219–1227, passen die Rundbogenfenster des Emporengeschosses zu den romanischen Reminiszenzen in einigen Bauten des französischen Gothique primitiv, ebenso die Fächerfenster der unteren Obergaden zu den ursprüngloichen Rundfenstern der Chorempore von Notre-Dame de Paris. Andererseits ist die Polygonalität ein Zeichen des Gothique classique.
  • Die Abteikirche Marienstatt, begonnen zwischen 1222 und 1245, entspricht einerseits mit runden Kapellenschlüssen und einfach runden Arkadensäulen dem Gothique primitiv, andererseits mit polygonalem Binnenchor und angedeuteten unbelichteten Triforien dem Gothique classique.
  • Der gotische Umbau des Bremer Doms begann um 1224. Die Fenster der südlichen Obergaden (ohne Maßwerk) und des Chors (Vormaßwerk) charakterisieren ihn als frühgotisch. Alle Pfeiler haben Dienste bis zu den Sockeln hinab, hier jedoch nachträglich an quadratische Kerne der romanischen Arkade angefügt. Da er keinerlei Triforium hat und der Chor rechteckig schließt, fehlen wichtige Kriterien einer Zuordnung zu Gothique primitiv gegenüber classique.

Hochgotik

Chor des Kölner Doms

Als erster großer Bau der Hochgotik in Deutschland gilt vielen Autoren der Kölner Dom. Aus der gut begründeten Ansicht, er sei nach dem Vorbild der Kathedrale von Amiens gebaut worden, wird klar, dass die deutsche Hochgotik dem französischen Gothique rayonnant entspricht. Die in Frankreich als wichtigstes Kriterium geltenden befensterten Triforien finden sich in Deutschland allerdings nur bei hochgotischen Basiliken der ersten Stunde, neben Köln vor allem im Langhaus des damals in Deutschland stehenden Straßburger Münsters.

Danach setzten sich Abweichungen von den französischen Vorbildern durch. Schon beim ab 1256 errichteten Chor des Utrechter Doms (Utrecht war ein Suffragan des Erzbistums Köln) bekamen die Triforien wieder keine Fenster, was auf spätere Basiliken im Bistum Utrecht abfärbte. Beim Regensburger Dom gestaltete man ab 1275 die Fenster des Chorpolygons so großflächig wie bei der ebenfalls umgangslosen Papstkirche St-Urbain in Troyes, und die Regensburger Querhausfenster sind riesig (s. u.), aber die Triforien sind fensterlos. Von den Basiliken des südlichen Ostseeraums, zumeist großen Pfarrkirchen, gehören die ersten noch der Hochgotik an. Sie haben zwar viele große Fenster, aber die Obergaden sind üblicherweise im unteren Teil blind. Außer Galerietriforien gibt es, die spätgotischen Basiliken der Region mit eingerechnet, zahlreiche Blendtriforien, die einen wie die anderen fensterlos.

Die wichtigste Abweichung von französischen Vorbildern ist freilich, dass in der mitteleuropäischen Hochgotik auch bei großen und ranghohen Bauten die Hallenkirche überwiegt.

Charakterisierung weiterer Einzelbauten:

  • Die Klosterkirche Haina, untere Zone der Ostteile romanisch, obere Zone ab zwischen 1230 und 1240, hat als Hallenkirche ohne Triforium kein Kriterium, sie dem Gothique classique zuzuordnen. Außer den Ostfenstern des Querhauses orientiert sich das Maßwerk eher an Amiens als an Reims[3]
  • In der Liebfrauenkirche in Trier, begonnen um 1230, haben die vier Pfeiler, die die Kuppel tragen, Dienste; die übrigen sind einfach runde Säulen. Ein Triforium gibt es nicht. Die nur durch die zarte Konstruktion des Laufgangs getrennten oberen und unteren Fenster des Chorpolygons ergeben eine Belichtung, die einer Konstruktion mit befenstertem Triforium entspricht.
  • Die Elisabethkirche in Marburg hat als Hallenkirche ebenfalls kein Triforium. Die Befensterung des Chors entspricht derjenigen der Trierer Liebfrauenkirche.
  • Am Magdeburger Dom passen die Stirnfenster des um 1240 errichteten Querhauses in ihrer Größe schon zum Gothique rayonnant. Da er gar keine Triforien hat, gibt es die für den Gothique classique typischen unbelichteten Triforien nicht.
  • Zu Beispielen besonders großer Fenster gehören die Westrose des zur Bauzeit in Deutschland stehenden Straßburger Münsters und das Südquerhaus des Regensburger Doms.

Spätgotik

Die Spätgotik in Deutschland hat teilweise Züge des Gothique flamboyant. In zahlreichen Gebäudebeschreibungen wird insbesondere spätgotisches Maßwerk als flamboyant bezeichnet. Typische Formen sind:

Es gibt aber noch weitere kreative Formen, besonders im Fenstermaßwerk. Manche dieser Formen finden sich anscheinend in den Werken der Familie Parler in Süddeutschland und Böhmen früher als in Frankreich.

Beispielbauten:

Außer der Neigung zu fantasievollem üppigen Dekor gab es in der deutschen Spätgotik eine gegenläufige Tendenz, nämlich auf Dekor zu verzichten.

Beispiele:

  • Marienkirche in Stralsund, ab 1382, Turm 1475–1485,
  • Frauenkirche in München, 1468–1488, überholte wegen Verzicht auf zeitaufwändige Details und guter Finanzierung mehrere lange vorher begonnene Kirchen, unter anderem das Gmünder Münster.

Terminologieproblem

Trotz der frühgotischen Charakteristika der meisten Bauten des Gothique classique und der anfangs geradezu zwingenden stilistischen Identität von Gothique rayonnant und deutscher Hochgotik ist in gängigen deutschen Handbüchern Gothique classique mit „Hochgotik“ übersetzt,[4][5]

Selbst falls die zweite französische Stilphase im Französischen in irgendeinem Text «haut Gothique» genannt wird, ist die Übersetzung „Hochgotik“ falsch, wie an der Einteilung des Mittelalters («Moyen Âge») deutlich wird. Während in der deutschen Begriffsbildung eine Epoche als Welle betrachtet wird, die in der Mitte am höchsten ist (Früh-, Hoch- und Spätmittelalter), geht die französische Begriffsbildung von der absteigenden Reihe aus: «Haut Moyen Âge» ist also das Frühmittelalter, gefolgt vom «Moyen Âge central» und danach dem «bas Moyen Âge» oder «Moyen Âge tardif».[6]

Weblinks

Fußnoten/Belege

  1. Günther Binding: Maßwerk. 1989, ISBN 3-534-01582-7, S. 43.
  2. Birthe Rogacki-Thiemann: Der Magdeburger Dom – Baugeschichte von 1207 bis 1567. (= Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege. Nr. 6). 2007, ISBN 978-3-86568-263-5.
  3. Christian Kayser: Die Baukonsrtuktion gotischer Fenstermaßwerke in Mitteleuropa. 2012, ISBN 978-3-86568-758-6, S. 294–303.
  4. Zeittafel in Wilfried Koch: Baustilkunde. 33. Auflage. 2016, ISBN 978-3-7913-4997-8.
  5. Zeittafel in Günther Binding: Architektonische Formenlehre. 8. Auflage. 2019, ISBN 978-3-534-27143-6.
  6. Encyclopaedia universalis: Moyen Âge