Richtlinienkompetenz

Die Richtlinienkompetenz ist die Zuständigkeit, Richtlinien der (Regierungs-)Politik verbindlich vorzugeben.

Deutschland

Bundeskanzler

Der deutsche Bundeskanzler verfügt gegenüber den anderen Regierungsmitgliedern über die Richtlinienkompetenz. Zur Anwendung kam diese allerdings nur äußerst selten.

Bundeskanzler Olaf Scholz machte am 17. Oktober 2022 von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch und entschied, dass die drei letzten aktiven Atomkraftwerke in Deutschland über den 31. Dezember 2022 hinaus betrieben werden sollen.[1][2] Die zuvor einzige bekannte Anwendung der Richtlinienkompetenz auf Bundesebene fand vom Kanzler Konrad Adenauer statt. Möglicherweise haben intern bei der Bundesregierung noch weitere Anwendungen stattgefunden, die nicht öffentlich dokumentiert wurden.[3]

Grundgesetzliche Ausformung

Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, umgangssprachlich auch „Kanzlerprinzip“ genannt, obwohl dieses noch weitere Kompetenzen des Kanzlers regelt, ist in Art. 65 S. 1 des Grundgesetzes (GG) geregelt. Sie stärkt die Stellung des Bundeskanzlers im politischen System der Bundesrepublik. Eine fast gleichlautende Vorschrift enthielt bereits die Weimarer Verfassung.[4]

Richtlinien bedeuten in diesem Zusammenhang Grundlinien der Regierungspolitik, also die allgemeine politische Ausrichtung, nicht dagegen jedes Detail der Regierungspolitik. Allerdings können auch Einzelfragen für die politische Ausrichtung wesentlich und dann Gegenstand von Richtlinien sein. Nach dem Ressortprinzip führt jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und eigenverantwortlich. Sind mehrere Bundesministerien von einer Angelegenheit betroffen, so entscheiden die Bundesminister nach dem Kollegialprinzip gemeinsam. Dabei sind jedoch alle Bundesminister an die vom Bundeskanzler vorgegebenen Richtlinien gebunden.[5] Einer besonderen Form bedarf die Richtliniensetzung nicht.

Die Richtlinienkompetenz wirkt einzig auf die Bundesregierung als Teil der Exekutive, nicht aber auf die Legislative (Bundestag und Bundesrat) oder die Judikative (Gerichte). Der Bundeskanzler kann somit unter Zuhilfenahme seiner Richtlinienkompetenz Gesetzesvorhaben anstoßen, deren Billigung unterliegt aber dem regulären Gesetzgebungsverfahren. Die Richtlinienkompetenz kann somit nur innerhalb des durch Gesetz und Rechtsprechung gesteckten Rahmens ausgeübt werden.

Diskussion

In der Politikwissenschaft ist umstritten, inwiefern die Richtlinienkompetenz eine Grundlage der Macht des Bundeskanzlers ist. Während Everhard Holtmann in ihr eine „Autoritätsreserve“ sieht, ist Eberhard Schuett-Wetschky der Auffassung, dass es sich bei der Richtlinienkompetenz um einen „Fremdkörper in der Parteiendemokratie“ handele, der „faktisch bedeutungslos“ sei.[6] Schuett-Wetschky begründet seine Auffassung damit, dass der Durchsetzung von Richtlinien letztendlich das freie Mandat der Bundestagsabgeordneten entgegen steht.[7] Die Richtlinienkompetenz sei ein Instrument hierarchischer Führung; in demokratischem Kontext sei aber hierarchische Führung nicht durchsetzbar.

„Ich habe bisher, in über acht Jahren, von der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 des Grundgesetzes keinen Gebrauch gemacht. Ich habe es vielmehr immer als meine Pflicht angesehen, große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden.“

Helmut Schmidt im September 1982 im Deutschen Bundestag, Plenarprot. 9/111, S. 6757A

Landesebene

Die meisten deutschen Landesverfassungen kennen, analog zum Grundgesetz, die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin verfügt über eine abgeschwächte Richtlinienkompetenz: Die von ihm bestimmten Richtlinien der Regierungspolitik bedürfen der Billigung des Abgeordnetenhauses von Berlin (Art. 58 Abs. 2 der Verfassung von Berlin [VvB]).

Allein die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen (LV) kennt keine Richtlinienkompetenz des Präsidenten des Senats. Laut Art. 118 Abs. 1 S. 1 LV gibt die Bremische Bürgerschaft die Richtlinien, nach denen der Senat der Freien Hansestadt Bremen die Verwaltung zu führen hat.

Kommunale Gremien

Die kommunalen Gremien (Gemeinde- bzw. Stadtrat, Kreistag, Bezirkstag) verfügen über die Möglichkeit, der jeweiligen Exekutive einschließlich deren Spitze (Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landrat, Bezirkstagspräsident) Richtlinien zur Erledigung von Vorgängen der laufenden Verwaltung – mit denen sich die Gremien im Einzelfall nicht beschäftigen – vorzugeben.

Österreich

Der österreichische Bundeskanzler verfügt nach der Bundesverfassung gegenüber den übrigen Bundesministern über keine Richtlinienkompetenz. Die Richtlinien der Regierungspolitik legt demzufolge die österreichische Bundesregierung als Kollegialorgan fest. Anzumerken ist allerdings, dass der Bundeskanzler in der österreichischen Bundesregierung letztlich doch insofern eine Vorrangstellung einnimmt, als er gemäß Art. 70 Abs. 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) die Möglichkeit hat, jederzeit dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vorzuschlagen, der seinen politischen Vorstellungen („Richtlinien“) nicht entspricht. In der politischen Realität der Koalitionsregierungen kann diese Kompetenz durch den Bundeskanzler bei Ministern, die der Koalitionspartner stellt, aber nicht ausgeübt werden, da die andere Partei die Koalition aufkündigen würde.

Dazu kommt, dass der Bundeskanzler ohne die Zustimmung des Finanzministers keine Entscheidungen treffen kann, die Budgetfragen betreffen. Die tatsächliche Vormachtstellung des Bundeskanzlers ist daher bloß bei Einvernehmen mit dem Finanzminister möglich. Werden daher Bundeskanzler und Finanzminister von unterschiedlichen Parteien gestellt, ist der Einfluss des Bundeskanzlers wesentlich geringer („Bundeskanzler ist nur so stark wie sein Finanzminister“).

De facto gründet sich daher eine eventuelle Vorrangstellung des Bundeskanzlers gegenüber den übrigen Bundesministern nur auf Grund der persönlichen Autorität des jeweiligen Organwalters in Verbindung mit dem Amtstitel „Bundeskanzler“.

Auch die österreichischen Landesverfassungen kennen, analog zum Bundes-Verfassungsgesetz, keine Richtlinienkompetenz des Landeshauptmannes.

Schweiz

Die Schweiz kennt auf Bundesebene keine Richtlinienkompetenz für den Bundespräsidenten. Allerdings besteht auf kantonaler Ebene ein Trend, diese zumindest in abgeschwächter Form einzuführen. So sehen die neuen Verfassungen der Kantone Waadt und Basel-Stadt diese in abgeschwächter Form vor. Art. 102 Abs. 2 der Basel-Städtischen Verfassung bezeichnet den Regierungspräsidenten wie folgt: „Er oder sie leitet, plant und koordiniert die Amtstätigkeit des Regierungsrates als Kollegialbehörde und vertritt ihn nach innen und außen“.

Europäische Union

Auf Ebene der Europäischen Union legt der Präsident der Europäischen Kommission nach Art. 17 Abs. 6 EU-Vertrag „die Leitlinien fest, nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt“.

Literatur

  • Eberhard Schuett-Wetschky: Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, demokratische Führung und Parteiendemokratie. Teil I: Richtlinienkompetenz als Fremdkörper in der Parteiendemokratie, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (2003), Heft 4, S. 1897–1932.
  • Eberhard Schuett-Wetschky: Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, demokratische Führung und Parteiendemokratie. Teil II: Fehlinformation des Publikums, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 14 (2004), Heft 1, S. 5–30.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. sueddeutsche.de 17. Oktober 2022: Das Machtwort des Kanzlers
  2. Olaf Scholz: Schreiben des BK Scholz vom 17.10.2022. In: Wayback Machine. Internet Archive, 17. Oktober 2022, abgerufen am 18. Oktober 2022.
  3. Michael Hesse: Richtlinienkompetenz: Der Wink der Macht. Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 2022, abgerufen am 20. Oktober 2022.
  4. Vgl. Art. 56 S. 1 Weimarer Verfassung.
  5. Vgl. Art. 65 S. 2 GG.
  6. Eberhard Schuett-Wetschky: Chefstellung des Bundeskanzlers? Zum Mythos von der Richtlinienkompetenz. In: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.): Die Politische Meinung. Ausgabe 418, 6. September 2004, S. 63–70 (kas.de).
  7. Vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG