Historisch-kritische Ausgabe

Als historisch-kritische Ausgabe (Abkürzung HKA) bezeichnet man in der Editionswissenschaft eine Ausgabe eines Textes, die auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Textträger die Entstehungsgeschichte des Textes nachzeichnet und einen möglichst authentischen, von Fehlern bereinigten Text präsentiert. Neben der Texterschließung bietet eine solche Ausgabe einen textkritischen Apparat sowie Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Erläuterungen und weitere Hilfsmittel. Durch die Akribie und Ausführlichkeit der Texterschließung bietet sie – im Gegensatz zu einfachen Leseausgaben – eine verlässliche Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Text.

Allgemeines

Historisch-kritische Ausgaben, besonders Gesamtausgaben, sind wissenschaftliche Großprojekte, die sehr personal- und kostenaufwändig sind und sich zum Teil über Jahrzehnte hinziehen. Ihre Erarbeitung findet meist in Universitäten, Akademien oder Archiven statt und wird öffentlich gefördert. Ihr Hauptanliegen ist, das Werk eines bedeutenden Denkers, Literaten oder Komponisten für die Forschung zu erschließen und der Nachwelt zu erhalten, oder die Überlieferungslage eines antiken Werkes zu dokumentieren. Historisch-kritische Gesamtausgaben gelten in den Geisteswissenschaften als „Königsdisziplin, die vor sich hin staubende Gedanken und vergessene Zusammenhänge ans Licht bringt“.[1]

Die ersten historisch-kritischen Werkausgaben im engeren Sinne gab es im 19. Jahrhundert; als besonders prägend ist die Weimarer Goethe-Ausgabe zu nennen. Vorläufer gab es jedoch schon seit der Antike, vornehmlich in der alexandrinischen Philologie (z. B. die Homer-Ausgabe des Zenodotos von Ephesos) sowie später in der Bibelexegese (z. B. die hexaplarische Rezension des Origenes).

Warum „historisch“?

Das Attribut historisch bedeutet hier, dass alle überlieferten Textträger (Manuskripte, Typoskripte, Drucke) gesichtet und bezüglich ihrer Rolle für die Textgenese bewertet werden. Daraus lassen sich in der Regel verschiedene Bearbeitungsstufen rekonstruieren, die in die Biographie des Autors eingeordnet werden können. Es müssen allerdings nicht alle Textstufen komplett abgedruckt werden. Es ist ausreichend, eine Version – (üblicherweise entweder die Editio princeps oder die Ausgabe letzter Hand) – als Vergleichsbasis auszuwählen und als Lesetext zu edieren. In einem textkritischen Apparat werden dann die Abweichungen der anderen Textstufen dokumentiert. Ergänzend dazu werden oft Manuskripte (zumindest in Auszügen) als Faksimile abgedruckt und/oder transkribiert. Auf der Basis der Transkription können dann aus Streichungen, Überschreibungen, Einfügungen, der Verwendung verschiedener Schreibgeräte etcetera verschiedene Bearbeitungsstufen innerhalb eines Textträgers rekonstruiert und beschrieben werden. Somit wird das gesamte zur Edition verwendete Material aufbereitet und dem Leser zugänglich gemacht.

Warum „kritisch“?

Das Attribut kritisch bezieht sich darauf, dass die Textträger nicht nur abgedruckt, sondern auch kritisch untersucht und bewertet werden. Bei Textvarianten muss zum Beispiel unterschieden werden, ob sie auf Schreibfehler im Manuskript, Druckfehler, Überarbeitungen des Autors oder Eingriffe des Herausgebers zurückzuführen sind. Gerade bei älteren Texten ist die Frage der Autorisation oft nicht leicht zu beantworten. Erkannte Fehler werden vom Editor korrigiert; diese Korrekturen werden aber in der Regel nicht stillschweigend durchgeführt, sondern im Apparat dokumentiert. Manchmal werden Fehler über Jahrhunderte von Ausgabe zu Ausgabe übernommen und erst durch eine historisch-kritische Ausgabe korrigiert.

Bei Varianten zwischen Textträgern sind vom Autor veröffentlichte Versionen grundsätzlich von unveröffentlichten Handschriften oder Typoskripten zu unterscheiden: Verschiedene veröffentlichte Fassungen sind als gleichberechtigt anzusehen, auch wenn meist nur eine als Basis des edierten Textes ausgewählt wird. Handschriften und Typoskripte sind zwar oft authentischer, weil frei von fremden Eingriffen, jedoch nicht vom Autor für die Veröffentlichung vorgesehen und müssen daher anders bewertet werden.

Typen von historisch-kritischen Ausgaben

In der Editionswissenschaft werden zwei Typen von historisch-kritischen Ausgaben unterschieden, je nachdem, was als zu lesender Haupttext ausgewählt wird.

Diplomatische Textausgabe

Alan England Brooke, The Old Testament in Greek, Anfang des Samuelbuches

In einer diplomatischen Textausgabe („diplomatisch“ von „Diplomatik“, nicht von „Diplomatie“) wird für den Haupttext eine bereits vorhandene Textform gewählt, entweder weil sie als Autograph oder Ausgabe letzter Hand auf den Autor selbst zurückgeführt werden kann, oder weil sie sich aus anderen Gründen als Standardtext durchgesetzt hat oder anbietet. Das kann z. B. der Text der editio princeps sein oder der einer besonders wichtigen Handschrift. Beispiele im Bereich biblischer Textausgaben sind die Biblia Hebraica Quinta, die Text und Masora des Codex L diplomatisch wiedergibt, und die große Cambridger Ausgabe der Septuaginta, die in ihrem Haupttext dem Codex Vaticanus (B) folgt und im Apparat die abweichenden Lesarten der übrigen Textzeugen notiert (vgl. die nebenstehende Abbildung).[2] Abweichende Varianten werden grundsätzlich nur im textkritischen Apparat benannt, auch dann, wenn die Herausgeber sie für besser als die Lesart des Haupttextes halten. Diplomatisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Herausgeber der von ihm gewählten Vorlage prinzipiell treu bleibt, aber bei Interpretationsspielraum, etwa wenn deren Text nur noch schwer lesbar ist, versucht, das wiederzugeben, was im Vorlagentext zu erwarten wäre. Diplomatische Textausgaben sind für historisch-kritische Ausgaben neuzeitlicher Werke die Regel, weil sich hier meist ein Autograph, eine Erstausgabe oder eine Ausgabe letzter Hand als Haupttext anbietet.

Eklektische Textausgabe

August von Gall, Der Hebräische Pentateuch der Samaritaner, Seite 1

In einer eklektischen Textausgabe wird der Haupttext unter eklektischer Benutzung mehrerer Zeugen eigens neu erstellt. Dieses Verfahren bietet sich dann an, wenn kein vollständiger Zeuge erhalten ist, wie etwa beim Gilgamesch-Epos, oder wenn kein einzelner Textzeuge durchgängig die beste Überlieferung bietet, z. B. weil alle vollständigen Textzeugen wesentlich jünger sind als das bezeugte literarische Werk. Letzteres ist insbesondere bei Werken der griechischen und lateinischen Antike die Regel, einschließlich des Neuen Testaments. Deren historisch-kritische Ausgaben sind darum meist eklektische Textausgaben.

Weil es unwahrscheinlich ist, dass es einem Herausgeber gelingt, in allen Fällen den tatsächlich ursprünglichen Text (Urtext) wiederherzustellen, ist der Haupttext einer solchen eklektischen Ausgabe immer eine moderne Konstruktion. Im Idealfall steht diese Konstruktion jedoch näher beim ursprünglichen Text als die beste der alten Handschriften. Beispiele im Bereich biblischer Textausgaben sind die Göttinger Septuaginta, die Ausgaben des griechischen Neuen Testaments von Nestle und Aland und die von-Gallsche Ausgabe des Samaritanischen Pentateuch (siehe die nebenstehende Abbildung).[3] In einer eklektischen Textausgabe werden alle Textzeugen prinzipiell gleich behandelt, so dass auch die Lesarten der wertvollsten Textzeugen manchmal nicht im Haupttext, sondern nur im Apparat erscheinen.

Bestandteile

Neben Textteil, Apparat und den oben genannten Angaben zu Textvarianten und Fehlerkorrekturen enthält eine historisch-kritische Ausgabe üblicherweise folgende Bestandteile:

  • Sämtliche erhaltenen Vorarbeiten zu einem Werk, zum Beispiel Notizen, Exzerpte, Schemata etc. (Paralipomena)
  • Nennung der Quellen, die der Autor zum Verfassen des Werkes herangezogen hat (evtl. auszugsweiser Abdruck der Quellen)
  • Dokumente zur Entstehungsgeschichte des Werkes (z. B. Briefe oder Tagebucheinträge des Autors, in denen das Werk genannt ist)
  • Erläuterung der Wirkungsgeschichte eines Werkes zu Lebzeiten des Autors (z. B. anhand von Rezensionen, Verkaufszahlen, Äußerungen von Zeitgenossen etc.)
  • Anmerkungen zu Sachbezügen, veralteten Wendungen etc., die aus heutiger Sicht kommentierungsbedürftig sind

Siehe auch

Literatur

Für Literatur zu einzelnen Philologien und anderen Fächern siehe den Abschnitt „Literatur“ im Artikel „Textkritik“.

  • Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 17603: Literaturstudium.). Reclam, Stuttgart 1997, ISBN 3-15-017603-4.

Fußnoten

  1. Alexander Cammann: Georg Simmel: Herrlicher Wahnsinn. In: Die Zeit, 25. Mai 2016, S. 46 (zur Vollendung der von Otthein Rammstedt herausgegebenen Georg-Simmel-Gesamtausgabe in 24 Bänden).
  2. Alan England Brooke, Norman McLean und Henry St. John Thackeray (Hg.), The Old Testament in Greek according to the Text of the Codex Vaticanus, supplemented from other Uncial Manuscripts, with a Critical Apparatus containing the variants of the Chief Ancient Authorities for the Text of the Septuagint, drei Bände, Cambridge 1909–1940.
  3. August von Gall, Der Hebräische Pentateuch der Samaritaner, Gießen 1918.