Emmanuel Le Roy Ladurie

Emmanuel Le Roy Ladurie, 2014

Emmanuel Bernard Le Roy Ladurie (* 19. Juli 1929 in Les Moutiers-en-Cinglais, Département Calvados) ist ein französischer Historiker, der zur Annales-Schule gehört und am Collège de France sowie der École des hautes études en sciences sociales in Paris wirkte.

Leben

Le Roy Laduries Familie stammt aus der Normandie. Sein Vater Jacques Le Roy Ladurie (1902–1988) war Bauerngewerkschafter, Vertreter der katholischen Soziallehre und langjähriger Bürgermeister der kleinen Gemeinde Les Moutiers-en-Cinglais. Er war 1942 Minister für Landwirtschaft des Vichy-Regimes, schloss sich dann aber der Résistance an und wurde später Abgeordneter des Départements Calvados in der Nationalversammlung.[1] Emmanuel Le Roy Ladurie besuchte eine katholische Privatschule in Caen, dann das Lycée Henri IV in Paris und das Lycée Lakanal in Sceaux. Er studierte lettres (Sprachen und Literatur) an der École normale supérieure in Paris, die er 1949 abschloss, und erhielt 1953 die Agrégation (Lehrbefugnis für höhere Schulen) im Fach Geschichte. Während des Studiums war er in der linken Studentenvereinigung Union nationale des étudiants de France (UNEF) aktiv, von 1949 bis zu seinem Austritt wegen der sowjetischen Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 war er Mitglied der Parti communiste français (PCF).[2]

Von 1955 bis 1957 unterrichtete er als Lehrer am lycée de garçons de Montpellier. In dieser Zeit begann er sich mit der Forschung zu beschäftigen, was einen entscheidenden Einfluss auf seine Karriere hatte. Von 1958 bis 1960 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre national de la recherche scientifique angestellt und von 1960 bis 1963 war er Assistent an der faculté de Lettres (Fakultät für Sprachen, Literatur, Philosophie und Geschichte) in Montpellier. In dieser Zeit war er Mitglied der Parti socialiste unifié (PSU).[2] Danach wechselte er als Dozent an die École des hautes études en sciences sociales (EHESS).[3] 1966 promovierte er mit der Dissertation Les Paysans de Languedoc zum docteur ès lettres. Das Werk, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, hatte weltweiten Erfolg. Es handelt von einem okzitanischen Dorf im Languedoc und basiert auf den Notizen des Inquisitors Jacques Fournier, des Bischofs von Pamiers im 14. Jahrhundert.[4]

Le Roy Ladurie wurde 1969 als Maître de conférences (Juniorprofessor) an die Pariser faculté de Lettres berufen, im Jahr darauf wurde er Professor an der Sorbonne. Infolge der Aufteilung der Pariser Universität lehrte er ab 1971 an der Universität Paris VII („Diderot“). Anschließend hatte er – als Nachfolger seines akademischen Lehrers Fernand Braudel – von 1973 bis 1999 den Lehrstuhl für die Geschichte der modernen Zivilisation am Collège de France inne. 1974 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences und 1979 in die American Philosophical Society[5] gewählt. Seit 1984 ist er korrespondierendes Mitglied der British Academy[6] und seit 1989 Mitglied der Academia Europaea. Er leitete von 1987 bis 1994 die Bibliothèque nationale de France. Seit 1995 ist er Mitglied der Académie des sciences morales et politiques des Institut de France. Er gehörte dem Leitungsausschuss der renommierten geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Annales an, inzwischen ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats. Auch nach seiner Emeritierung war er weiterhin sehr aktiv, nahm an Konferenzen teil und veröffentlichte Artikel, vor allem im Bereich der Klimageschichte.[7][8]

Nachdem Le Roy Ladurie als junger Mann mit dem Kommunismus sympathisiert hatte, wurde er später zu einem Vertreter der liberalen Rechten[9] und ausgesprochenen Kritiker linker Ideologien. Er wurde 1985 stellvertretender Vorsitzender der Gruppe Liberté sans Frontières („Freiheit ohne Grenzen“), die sich gegen linke Entwicklungstheorien und totalitäre Regimes in der Dritten Welt stellte.[10] Außerdem ist er seit 2000 Vorsitzender der von Karel Bartošek initiierten Association d’études et de recherches en sciences sociales Annie Kriegel, einer antitotalitären wissenschaftlichen Vereinigung.

Werk

Le Roy Laduries Hauptgebiet ist die Erforschung und Beschreibung des Lebens der einfachen Menschen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, speziell in der Region Languedoc-Roussillon. Er rekonstruiert die Alltagsgeschichte und Strukturen hinter den Ereignissen zum Beispiel aus Protokollen der Inquisition oder Steuerlisten und Anwaltsschriften der Kleinstadt Romans.

Le Roy Ladurie wird als Pionier der mikrohistorischen Analyse bezeichnet und damit zu den einflussreichsten zeitgenössischen Historikern gezählt. Er wurde stark durch seinen Mentor Fernand Braudel und die Annales-Schule geprägt.[11] Mehrere seiner geschichtswissenschaftlichen Bücher wurden zu Bestsellern, besonders seine 1975 veröffentlichte Monografie Montaillou über das Leben und die Mentalität von Hirten und Bauern im Dorf Montaillou zu Zeiten der Katharer-Verfolgung war ein großer Erfolg.

Le Roy Ladurie gilt als einer der Pioniere der historischen Klimatologie. Er war Vorreiter in der Rekonstruktion der Klimageschichte aus Schriftzeugnissen, den Klimaarchiven der Gesellschaft. In seinem Buch über Klimageschichte (1967) konzentrierte er sich zunächst auf die Rekonstruktion des Klimas der Vergangenheit aus historischen Quellen, auch als Antwort auf die Versuche älterer Historiker zu einem klimatischen Determinismus in der Geschichtsschreibung.[12][13] So verbreitete er beispielsweise das Konzept der „kleinen Eiszeit“ im 17. Jahrhundert, das vor ihm bereits der schwedische Historiker Gustaf Utterström verwendet hatte.[14]

Er schrieb auch über den Aufstieg von Thomas Platter dem Älteren, einem Schweizer, der es im 16. Jahrhundert vom Hirten zum Humanisten und Rektor in Basel brachte, und gab Dokumente, Autobiographisches und Reiseberichte zu ihm und dessen Familie heraus, besonders von Thomas Platter dem Jüngeren, der in Montpellier studierte.

Auszeichnungen (Auswahl)

Schriften (Auswahl)

  • Les Paysans de Languedoc, Dissertation, Sevpen, Paris 1966.
  • Histoire du climat depuis l’an mil. Flammarion, Paris 1967.
  • Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, Gallimard, Paris 1975.
  • Le Carnaval de Romans: de la Chandeleur au Mercredi des cendres (1579–1580), Gallimard, Paris 1979.
    • Übersetzung: Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579–1580. Klett-Cotta, Stuttgart 1979, ISBN 3-12-935060-8. Neuausgabe, dtv, München 1989, ISBN 3-423-04498-5.
  • Le Siècle des Platter, 3 Bände, Paris, Fayard:
  • Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie Platter 1499–1628. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91779-9.
  • als Übersetzer und Herausgeber: Le voyage de Thomas Platter. 1595–1599. Fayard, Paris 2000, ISBN 2-213-60547-5.
  • als Herausgeber, Übersetzer, Kommentator: L’Europe de Thomas Platter: France, Angleterre, Pays-Bas. 1599–1600. Fayard, Paris 2006, ISBN 2-213-62785-1.
  • L'Historien, le Chiffre et le Texte, Paris, Fayard, 1997.
  • Les fluctuations du climat de l’an mil à aujourd’hui, Paris, Fayard, 2011.
  • Une vie avec l’histoire. Mémoires. Tallandier, 2014.

Literatur

  • Stefan Lemny: Emmanuel Le Roy Ladurie – une vie face à l'histoire. Hermann, 2018.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Pierre Assouline: Le paysan de Vichy. In: lexpress.fr. 3. April 1997, abgerufen am 17. Juli 2021 (französisch).
  2. a b Hélène Chaubin: LE ROY LADURIE Emmanuel, Bernard. In: Le Maitron – Dictionnaire biographique mouvement ouvrier mouvement social. Stand 4. August 2009.
  3. Emmanuel Le Roy Ladurie. Abgerufen am 30. Juni 2019 (französisch).
  4. Martine Fournier: Montaillou, village occitan de 1294 à 1324. Abgerufen am 30. Juni 2019 (französisch).
  5. Member History: Emmanuel Le Roy Ladurie. American Philosophical Society, abgerufen am 4. Januar 2019.
  6. Fellows: Emmanuel Le Roy Ladurie. British Academy, abgerufen am 20. Oktober 2020.
  7. Emmanuel Le Roy Ladurie und Daniel Rousseau: Impact du climat sur la mortalité en France, de 1680 à l'époque actuelle. Hrsg.: La météorologie. No. 64, 2009, S. 43 - 53.
  8. Jean-Pierre Javelle, Emmanuel Le Roy Ladurie und Daniel Rousseau: Sur l'histoire du climat en France : le XIXe siècle. Hrsg.: La météorologie. No. 92, 2016, S. 21 - 25.
  9. Pauline Lecomte: Emmanuel Le Roy Ladurie, une vie avec l’histoire. In: La Nouvelle Revue d’Histoire, Nr. 74, September 2014.
  10. Jean-Louis Margolin: Anti-Tiers-Mondisme – nouvelle mode. In: Espace Temps, Nr. 30 (1985), S. 70–71.
  11. François Dosse: Mai 68, les effets de l'histoire sur l'Histoire. Hrsg.: Politix. vol. 2, No. 6, 1989, S. 47 - 52.
  12. Franz Mauelshagen: „Anthropozän“. Plädoyer für eine Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Zeithistorische Forschungen, Band 9, 2012, S. 131–137 (online).
  13. Franz Mauelshagen: Klimageschichte der Neuzeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-21024-4, S. 22 f.
  14. Wolfgang Behringer: „Kleine Eiszeit“ und Frühe Neuzeit. In: Behringer u. a.: Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, S. 415–508, hier S. 417.
  15. Collège de France: Biographie Emmanuel Le Roy Ladurie. Abgerufen am 7. November 2021 (französisch).
  16. a b Who's Who: Emmanuel Le Roy Ladurie. Abgerufen am 7. November 2021.